„Damit wird der ‚Brexit‘ zu einem realen Risiko“, erklärt Hetal Mehta, European Economist bei Legal & General Investment Management (LGIM). „Die Regierung von David Cameron könnte versucht sein, die Briten bereits 2016 zu den Urnen zu rufen, um den Wahlen in Deutschland und Frankreich 2017 zuvorzukommen – und das Ergebnis scheint derzeit völlig offen.“ Die Folgen eines möglichen Austritts für die Finanzmärkte seien schwer absehbar. Denn auch ohne die EU-Mitgliedschaft könnte das Vereinigte Königreich teilweise in den europäischen Binnenmarkt integriert bleiben. Angesichts des derzeitigen Leistungsbilanzdefizits könnte ein Austritt zudem Folgen für die externe Finanzierungslage des Landes haben. „Realistischerweise müssen Investoren daher im Falle eines Brexits zumindest mit steigenden Risikoprämien auf britische Vermögenswerte rechnen“, schätzt Christopher Jeffrey, Strategist im Asset-Allocation-Team von LGIM.
Im Falle eines Austritts komme es darauf an, wie dieser institutionell ausgestaltet würde. „Eine der für Investoren wichtigsten Fragen lautet, ob die britischen Finanzdienstleister weiterhin Zugang zum Binnenmarkt haben. Das wäre nur dann gesichert, wenn das Vereinigte Königreich Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums bleibt“, erläutert Jeffrey. Norwegen und Island seien Beispiele für ein solches Arrangement. Dieses sei allerdings weiterhin mit Beiträgen zum EU-Haushalt verbunden und sehe keine Möglichkeiten einer verstärkte Kontrolle der Einwanderung vor – eine der entscheidenden Kernpositionen in den Verhandlungen, die die Regierung von David Cameron derzeit mit der EU führt. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten seien die ökonomischen Folgen schwer einzuschätzen, so Hetal Mehta. Die Schätzungen reichten von einem Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von fünf Prozent bis zu einem Rückgang von zehn Prozent. Ein Austritt könnte zudem eine Reihe weiterer, unvorhersehbarer Entwicklungen anstoßen. So könnten nicht nur die anhaltenden Zweifel am Einigungsprojekt im übrigen Europa weitere Nahrung erhalten. „Auch ein Anlauf zu einem zweiten schottischen Referendum erscheint möglich, und dürften die Sorgen darum für Unruhe im Vereinigten Königreich sorgen“, schätzt die Ökonomin.
Ob das Land die EU verlässt, sei dabei so offen wie nie. Den neuesten Umfragen zufolge tendierten die Briten zu etwa gleichen Teilen zum Austritt oder Verbleib in der EU, und die Bereitschaft, am Tag der Abstimmung zur Urne zu gehen, sei unter den Befürwortern des Austritts deutlich höher als unter den Gegnern. Aus einer strategischen Perspektive sollten Investoren die Gefahr eines „Brexit“ daher nicht unterschätzen. „Einen entscheidenden Einfluss dürften allerdings noch die Verhandlungen haben, die die Regierung mit der EU über die Bedingungen ihrer Mitgliedschaft führt“, sagt Mehta. Denn derzeit seien noch 20 Prozent der Briten unentschlossen, und ebenfalls 20 Prozent bekundeten, für einen Verbleib zu stimmen, wenn der Premierminister diesen unterstützt. Bereits 1975 habe Großbritannien über seine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verhandelt. Damals hätten die Ergebnisse, die von der Regierung als großer Erfolg und „New Deal für Europa“ verkauft wurden, die Unterstützung für die europäische Integration innerhalb der Bevölkerung deutlich ansteigen lassen.