Gabriel kramt die „Lebensleistungsrente“ aus dem schwarz-roten Koalitionsvertrag, vordergründig, um damit die düsteren Aussichten von Geringverdienern etwas aufzuhellen. Wer wenig oder gar nichts in die Rentenkasse bezahlt hat, soll im Alter mehr als Almosen bekommen, lautet Gabriels Botschaft. Vielleicht mag der oberste Genosse hier tatsächlich auch edle Motive hegen. Vor allem aber ist es die nackte Angst, bei der nächsten Bundestagswahlen endgültig mit Pauken und Trompeten unterzugehen.
Nach wie vor leidet die SPD unter den harten Sozialreformen des einstigen Agenda-Kanzlers Gerhard Schröder. Mit den Hartz-IV-Gesetzen haben die Sozialdemokraten eine ganze Generation linker Wähler verloren. Sozial ist, was Arbeit schafft, tönte es einst aus Schröders rot-grüner Regierung. Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch. Doch geschaffen hat man vor allem einen veritablen Niedriglohnsektor – also jene Billig-Jobber, denen in naher Zukunft die Altersarmut droht. Die Scharte, die sich die SPD vor 15 Jahren selbst geschlagen hat, sitzt nach wie vor tief. Wie ein anklagendes Mahnmal hockt die Linkspartei im Bundestag und vielen Länderparlamenten. Auf einen Schlag und vermutlich dauerhaft nahm sie den Genossen zehn Prozent der Wähler ab. Weitere einstige SPD-Sympathisanten wandten sich frustriert anderen Lagern zu – oder ganz von der Politik ab. Wer die Hartz-IV-Keule mit voller Wucht spüren musste – oder wem sie droht, dem leuchtet der Spruch der Linkspartei ein: Armut per Gesetz. Plötzlich mit 50 arbeitslos – das heißt ein Jahr lang Arbeitslosengeld I, dann das sauer Ersparte für das Alter aufbrauchen und schließlich Hartz IV als Endstation. Arbeitslose werden so vom Staat enteignet – dann nimmt man ihnen auch noch die Würde, indem man sie auf eine Stufe stellt mit jenen, die noch nie gearbeitet haben.
Damit nicht genug, enthalten Schröders Sozialreformen die gesetzlich verordneten Rentenkürzungen, die die Arbeitnehmer bitteschön mit privater Vorsorge ausgleichen sollen. Wohl dem, dessen Gehalt am Monatsende dafür Spielräume bietet. Auf den Arm genommen fühlen sich vor allem die Babyboomer der 60er-Jahre, die doppelt und dreifach abkassiert werden – und dafür mit viel Glück die halbe Rente bekommen werden. Das sind die Sorgen, die viele in der Sandwich-Generation plagen, Herr Gabriel! Mit ein paar Reförmchen jedoch – wie der Rente mit 63 oder der Lebensleistungsrente – schafft man nur kosmetische Korrekturen. Die aktuellen Zugpferde der Arbeitswelt, die noch zehn, 15 oder 20 Berufsjahre vor sich haben, erreicht man damit nicht. Wenn Politiker dennoch glauben, ihnen würden mit leicht durchschaubaren Manövern auf einmal wieder die Wählerherzen zufliegen, dann spricht daraus die pure Verzweiflung. Die nüchterne Replik von Wolfgang Schäuble auf Gabriels Renten-Vorstoß kam prompt und liest sich ziemlich eindeutig:
Der Finanzminister schlug umgehend die Rente mit 70 vor. Dahinter steckt natürlich der Hinweis, wer am Ende für Wahlkampfgeschenke die Rechnung bezahlen muss – die heute 40- und 50-Jährigen. Dabei drückt sich Schäuble um eine andere unangenehme Frage herum: die steigenden Pensionslasten, die künftige Finanzminister noch vor erhebliche Probleme stellen werden. Seit Jahrzehnten „reformieren“ die verschiedensten Regierungen nun an der Rente herum. Großzügig bedienten sie sich an den Geldern, verteilten teure Wahlgeschenke und finanzierten aus den Sozialkassen ganz nebenbei einen beträchtlichen Teil der Kosten für die deutsche Einheit. Und bei allen Reformbemühungen sind letztlich nur Scheinlösungen herausgekommen, die die Probleme auf die lange Bank schieben. Sehenden Auges steuert die Politik auf den Punkt zu, an dem es das böse Erwachen gibt – nämlich, wenn Ebbe in der Rentenkasse herrscht. Man darf gespannt sein, welcher Politiker sich dann zuerst traut, die Rente mit 75+ zu fordern.
Mittelbayerische Zeitung