Wirtschaft

Wie wir die Lehman-Pleite hinter uns lassen können

von Edward Bonham Carter, Vice Chairman bei Jupiter Asset Management

rawpixel / Pixabay


Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers haben die unorthodoxen Maßnahmen der Zentralbanken zur Bekämpfung der globalen Finanzkrise ein fragiles Umfeld hinterlassen. Die Perspektiven für eine globale Konjunkturerholung haben sich verschlechtert. Die Assetpreise haben zwar Allzeithochs erreicht, aber das Vertrauen ist weiterhin zerbrechlich. Insofern sorgen sich viele Marktteilnehmer, dass der nächste globale Schock direkt bevorsteht. Anleger reagieren nervös, wie es sich in den Währungskrisen in der Türkei und in Argentinien zuletzt zeigte. Dann kommen unrühmliche Jahrestage nach Lehman-Art hinzu, die nicht wirklich zur Beruhigung der Nerven beitragen. In der Öffentlichkeit dürfte genau so darüber berichtet werden, was noch in Ordnung zu bringen ist, wie über die sehr greifbaren Fortschritte, die seit 2007 und 2008 erzielt wurden. Nur wenn wir verstehen, wo die Schwachstellen im derzeitigen Wirtschaftssystem liegen, haben wir eine Chance, für den nächsten Abschwung gerüstet zu sein. Der zehnte Jahrestag der Lehman-Pleite bietet uns Gelegenheit dazu.

Eine Vernunftehe

In den letzten zehn Jahren gingen die Finanzmärkte und Zentralbanken Hand in Hand. Es ist mittlerweile eine Verflechtung, mit zunehmendem Zwangscharakter. Die Märkte begrüßten es zunächst als die Zentralbanken die Zinsen drastisch senkten und mit Anleihekaufprogrammen Geld in ein liquiditätsarmes Finanzsystem pumpten. Das Vertrauen der Marktteilnehmer kehrte zurück und die Märkte erholten sich. Einige sind jedoch der Ansicht, dass diese angeblich vorübergehenden Maßnahmen bereits viel zu lange andauern und viel Schaden anrichten. Das Ausmaß der Zentralbankinterventionen war so gewaltig, dass die vier großen Notenbanken – die US Federal Reserve, die People’s Bank of China, die Europäische Zentralbank und die Bank of England – nun Vermögenswerte in Höhe von rund 20 Billionen Dollar in ihren aufgeblähten Bilanzen halten.(1) Kritiker argumentieren, vielleicht nicht ganz unberechtigt, dass dies die Assetpreise zu hoch getrieben hat. Sie befürchten auch, dass die Zentralbanken beim Versuch, ihre Bilanzen abzubauen, die Märkte weiter destabilisieren werden. Allzu schnell könnte der Eindruck entstehen, dass die Markterholung der letzten zehn Jahre auf äußerst wackligen Füßen steht.

Schluss machen ist niemals einfach

Trotz allem ist sowohl den Zentralbanken als auch den Finanzmärkten klar, dass sie sich aus der aktuellen Zwangslage befreien müssen. Die Zentralbanken müssen in der Lage sein, die Zinsen zu erhöhen und ihre Bilanzen abzubauen, sonst verfügen sie nicht über die nötigen Instrumente, um mögliche globale Schocks der Zukunft abzuwehren. Man stelle sich einmal vor, die Zinsen wären zu Beginn der globalen Finanzkrise vor zehn Jahren auf dem heutigen Niveau gewesen. Die Finanzmärkte sind sich dessen bewusst, es fällt ihnen aber schwer, sich aus der Niedrigzinsphase zu befreien. Sie haben sich längst daran gewöhnt, dass Fed und Co. in schwierigen Zeiten gegensteuern. Die Zentralbanken verhielten sich in Bezug auf künftige Zinserhöhungen bislang sehr vorsichtig, denn sie befürchten, das moderate Wirtschaftswachstum in vielen Industrieländern abzuwürgen. Die USA sind eine bemerkenswerte Ausnahme, wenngleich noch abzuwarten ist, ob das Wachstumstempo wirklich nachhaltig ist.

Die Welt steckt bis zum Hals in Schulden

Obwohl globale Krisen niemals gleich sind, gehen sie alle auf Schwachstellen innerhalb des wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Systems zurück. In der aktuellen Erholungsphase ist das Schuldenniveau ein großes Problem, das durch die seit zehn Jahren andauernde Niedrigzinsphase verstärkt wurde. Laut McKinsey ist  die weltweite Gesamtverschuldung (einschließlich der Verschuldung privater Haushalte, Non-Financials und Staaten) seit der globalen Finanzkrise 2008 auf 169 Billionen Dollar gestiegen ist. 2007 lag sie noch bei 97 Billionen Dollar.(2) Die Märkte konzentrierten sich vor allem auf die wachsende Unternehmensverschuldung in den Schwellenländern, insbesondere in China. Das Land weist inzwischen eine der höchsten Unternehmensverschuldungsquoten im Verhältnis zum BIP auf. Aus Sicht vieler Anleger ist das der Ursprung allen Übels. Durch den steigenden US-Dollar wurden die Schwellenländer von einer Verkaufswelle erfasst, da lokale Unternehmen Schwierigkeiten haben, ihre auf Dollar lautenden Kredite zurückzuzahlen.

Gewonnene Erfahrungen

Für die Schwellenländer hat sich in den letzten zehn Jahren aber viel verändert. Die dortigen Unternehmen haben zwar viele Verbindlichkeiten in US-Dollar, aber das Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Fremdfinanzierung ist heute kleiner. Ausnahmen wird es immer geben, aber viele Schwellenländerunternehmen haben aus früheren Krisen gelernt und nehmen Kredite nur noch dann in Fremdwährung auf, wenn sie Umsätze in dieser Währung generieren. Das verschafft ihnen eine natürliche Absicherung. Zweitens sind die Sektoren in den Schwellenländern heute ganz anders zusammengesetzt. So macht der IT-Sektor einen viel größeren Anteil am gesamten Aktienuniversum aus, während die Rohstoff- und Grundstoffsektoren inzwischen geringere Anteile haben. Daher könnten Schwellenländer fallende Rohstoffpreise, die in der Regel mit einem globalen Abschwung einhergehen, insgesamt besser verkraften. Als letzter Punkt ist zu erwähnen, dass sich das Kapitalmanagement und die Interessenberücksichtigung von Minderheitsaktionären nachweislich verbessert hat. Deutlich mehr Unternehmen schütten heute mehr Dividenden aus als noch vor zehn Jahren.

Trotz dieser positiven Entwicklungen haben Skeptiker einen Punkt, wenn sie auf die Krisen in der Türkei und Argentinien hinweisen. Von ihnen geht die Gefahr einer globalen Ansteckung aus. Immerhin ist das bisher nicht eingetreten. Aufgrund ihres hohen Leistungsbilanzdefizits war die Türkei schon immer ein Sonderfall was ihre Anfälligkeit für externe Krisen angeht. Ähnliche Fälle – wenn auch von geringerem Ausmaß – sind bereits aufgetreten, ohne dass es zu einer Ansteckung kam. Was Argentinien anbelangt, so ist ein neues Sparprogramm ein Schritt in die richtige Richtung, um das Vertrauen der internationalen Kreditgeber in die Wirtschaft wiederherzustellen. Ja, die Schwellenländer leiden unter einer Verkaufswelle, aber unseres Erachtens zeichnet sich kein apokalyptisches Szenario ab.

Politik und Politiker als Störfaktoren

Die Krise in der Türkei verweist in Wirklichkeit auf eine anderes Problem, das sich seit der globalen Finanzkrise herauskristallisiert: die Politik als Störfaktor für das globale Wachstum. Das ist zwar nichts völlig Neues, erscheint heute jedoch problematischer denn je. In der Türkei hält ein Mann die Macht fest in seinen Händen: Recep Tayyip Erdogan, ein Demagoge mit wirtschaftlich unorthodoxen Ansichten, der zur aktuellen Krise seines Landes beigetragen hat. In Russland hat die Wirtschaft mit mehreren Herausforderungen zu kämpfen. Die De-facto-Annexion der Krim durch Wladimir Putin, die angebliche Einmischung seines Landes in die US-Wahlen und der Einsatz in Syrien führten zu einer Reihe internationaler Sanktionen. In Großbritannien hat sich das Wirtschaftswachstum seit dem Brexit abgeschwächt. Indes haben die Wahl von Donald Trump und seine America First-Politik einen Handelskrieg nach der Devise „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ausgelöst, aus dem das globale Wachstum als größter Verlierer hervorgehen dürfte. Geopolitische Spannungen können schnell eskalieren und müssen genau im Auge behalten werden.

Die nächste Wirtschaftskrise vorherzusagen, ist eigentlich immer einer Sisyphusaufgabe. Marktbeobachter tun aber gut daran, den weisen, wenn auch möglicherweise apokryphen Sinnspruch von Mark Twain zu berücksichtigen: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“. Ja, auch in Zukunft wird es globale Schocks geben, aber die Banken werden sie wahrscheinlich nicht ausgelöst haben. Sie haben ihr Profil in den letzten zehn Jahren größtenteils wieder hergestellt. Aber wir beobachten neue Herausforderungen und Risiken. Hierzu zählen beispielsweise passive Anlagen und algorithmischer Handel, die gerade einen echten Boom erleben. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nur erahnen, wie sie sich in Stressphasen verhalten könnten.

Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite lernen die Finanzmärkte immer noch, sich in dem neuen Umfeld zurechtzufinden, das die Finanzkrise 2007/2008 geschaffen hat. Das passiert in einer Zeit, in der die Welt laufend weiter an Komplexität gewinnt. Die Fähigkeit der Menschen, die Zusammenhänge zwischen Finanz- und Realwirtschaft zu verstehen, hat sich meiner Meinung nach kaum verbessert. Im Jahr 2008 besuchte Queen Elizabeth II. die London School of Economics und fragte, warum niemand in der Lage gewesen war, die Finanzkrise vorherzusehen. Ich fürchte, Ihre Majestät wird nach einem erneuten globalen Schock die gleiche Frage stellen.

(Jupiter Asset Management)

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