Die Politik in den USA hat einen solchen Einfluss auf die Geschehnisse im Rest der Welt, dass die US-Wahlen in allen Ländern fast genauso wichtig sind wie die jeweiligen nationalen Wahlen.
Für die anstehende Wahl sind die Prognosen so verworren, dass Märkte wie Menschen den Atem anhalten und schon auf die geringste Bewegung reagieren. Die TV-Debatte zwischen Donald Trump und Joe Biden zeigte es, denn diese war derart angespannt und so wenig informativ, dass die Märkte anschließend fielen, sich dann aber wieder erholten. Eines wurde dadurch jedoch deutlich, wenn auch nicht im Hinblick auf die politischen Positionen, sondern die Vitalität der Kandidaten: Sie bewies, dass Biden Trump standhalten kann, was ihm sehr zugutekam. Die jüngste Wendung ist der positive COVID-19-Test von Donald Trump. Auch wenn dieser Test keine unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen hat, gaben die Märkte unverzüglich deutlich nach. Neben dem Markt für Staatsanleihen profitierte hiervon vor allem ein anderer Kurs: die Quote von Joe Biden bei den Anbietern von Online-Wetten. So gilt Joe Biden zum 2. Oktober bei einem der größten Wettanbieter mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 60 % als Sieger, während der Abstand in den Umfragen geringer ist. Nebenher bemerkt ist auch die Quote von Mike Pence, dem aktuellen Vizepräsidenten, keineswegs bei null. Zwar ist die Möglichkeit seiner Wahl anstelle von Trump vorerst quasi null, doch wäre sie für die Märkte nicht verführerisch, wenn sie konkreter würde?
Solange sich die Unsicherheit im Zusammenhang mit diesen Wahlen nicht wenigstens etwas verflüchtigt, könnten die Märkte weiterhin auf ihrem aktuellen Niveau herumdümpeln. Es sei denn, es tritt ein Ereignis ein, wie z. B. der Rückzug eines Kandidaten oder die rasche Verfügbarkeit eines Impfstoffs oder Medikaments, wie es mit mysteriösen Worten vom Institut Pasteur in Lille jüngst angedeutet wurde.
Liquiditätsfluss der EZB könnte sich verstärken und verlängern
Diese Oberflächenwellen verhindern nicht die Bewegung mancher Tiefenströmungen. Dies gilt insbesondere für die Fortschritte, die die Befürworter einer neuerlichen Verstärkung der geldpolitischen Anreize durch die Zentralbanken erzielten. Diese Strömung hat seit der Rede von Christine Lagarde vor dem Europäischen Parlament am Montag, dem 30. September, bei der sie eine bedeutende Änderung an der Auslegung des EZB-Mandats andeutete, an Stärke gewonnen. So solle das Mandat nicht mehr eine Inflation „unter, aber nahe an 2 %“ sicherstellen, sondern sie „um 2 %“ ausrichten und dabei für gewisse Zeit auch ein Niveau über diesem Grenzwert zulassen. Damit folgt die EZB-Präsidentin der Fed, die ihre Doktrin kurz zuvor in diesem Sinne geändert hatte, auf dem Fuße. Falls diese Denkströmung auch in Europa die Oberhand gewinnt, könnte sich der Liquiditätsfluss der Zentralbank verstärken und verlängern. Hierfür müssen jedoch noch die Verfechter der geldpolitischen Orthodoxie, allen voran die deutsche Bundesbank, ihren Widerstand aufgeben.
Auf anderer Ebene, und sehr viel gedämpfter, gibt es einen Konflikt, dessen finanzielle Auswirkungen auf lange Sicht nicht weniger erheblich sind als das Duell zwischen den Kandidaten in den USA. Aber dieser Konflikt betrifft nur die Europäer. Denn trotz ihrer stark abweichenden Ansichten sind sich die beiden US-Kandidaten wenigstens in einem Punkt einig: den noch stärkeren geldpolitischen Anreizen und der unbegrenzten Verschuldung. Während die Welt den Atem anhält, während sich die Europäer um die Zehntelstelle hinter der „Inflation von 2 %“ zanken und sich mit dem Vereinigten Königreich entzweien, sind sich die gespaltenen Amerikaner zumindest im Hinblick auf ihre Zentralbank einig. Sie erhöhen ungeniert ihr Haushaltsdefizit und bewegen sich – wenn auch mühsam – in Richtung eines neuen Konjunkturpakets. Werden sie – wenn die Wahlen vorbei sind und die Welt aufatmen kann – für die Fortsetzung des Wettkampfs dann mehr Sauerstoff gespeichert haben?
(LFDE)