Wirtschaft

Inflation – die letzten Kilometer sind die Härtesten

Von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE

Anleger analysieren Fundamentaldaten nach Zinserhöhung fotoblend / Pixabay

Die Inflation geht überall zurück. Im Mai dieses Jahres fiel sie in den USA auf 4 %, nachdem sie im Juni 2022 noch bei 9 % gelegen hatte. In der Eurozone ist sie von über 10 % im Oktober 2022 im Juni dieses Jahres vorläufigen Schätzungen zufolge auf 5,5 % gesunken. Doch ist die Schlacht damit schon gewonnen? Leider nicht.

Denn wenngleich sich die Gesamtinflation verlangsamt, sieht es bei der Kerninflation, die um die volatilsten Komponenten bereinigt ist, ganz anders aus. Sie kletterte im Mai in den USA auf 5,3 % und in der Eurozone im Juni auf 5,4 % (vorläufige Schätzung). Damit liegt sie in den USA über der Gesamtinflation und in der Eurozone praktisch auf demselben Niveau. In beiden Fällen geht sie also nur geringfügig zurück beziehungsweise legt in der Eurozone sogar leicht zu.

Der Unterschied zwischen den beiden Inflationsarten ist insbesondere auf den Rückgang der Rohstoffpreise zurückzuführen, die im Zuge des Krieges in der Ukraine in die Höhe geschnellt waren. So ist der Terminkontrakt auf europäisches Erdöl von über 100 Dollar pro Barrel im März 2022 seit Jahresbeginn auf durchschnittlich 80 Dollar zurückgegangen, und europäisches Erdgas liegt wieder auf demselben Niveau wie vor Kriegsbeginn.

Kerninflation wird von starken Faktoren gestützt

Doch dass die Kerninflation weniger schnell zurückgeht als die Gesamtinflation, liegt nicht allein am Fallen der Rohstoffpreise, das nur letztgenannter zugutekommt. Es liegt auch daran, dass die Kerninflation von starken Faktoren gestützt wird, die Christine Lagarde in ihrer Rede anlässlich des Treffens der Zentralbanker in Sintra als beunruhigend, da relativ nachhaltig bezeichnet hat.

Der erste Faktor ist die Lohninflation. In den USA stieg der durchschnittliche Stundenlohn im Mai um 4,3 %. Das ist zwar ein Rückgang gegenüber dem Spitzenwert von knapp 6 % im März 2022, aber es ist seit mehreren Monaten praktisch kein Abwärtstrend mehr erkennbar. In der Eurozone rechnet die Europäische Zentralbank bis Ende 2025 mit Lohnzuwächsen von 14 %, was fast 5 % pro Jahr entspricht. Das ist eine gute Nachricht für Arbeitnehmer. Doch dieses selten erreichte Niveau ist insofern beunruhigend, als es mit einer ausgeprägten Trägheit verbunden ist, insbesondere in Europa, wo die Lohnverhandlungen oft jährlich geführt werden, womit die Voraussetzungen für eine möglicherweise dauerhafte Inflation geschaffen sind.

Noch beunruhigender ist, dass sich diese Lohninflation vor dem Hintergrund eines äußerst angespannten Arbeitsmarkts vollzieht, der sich wesentlich besser entwickelt, als es das notorisch schwache Wachstumsniveau hätte vermuten lassen, das nach den Konsensschätzungen von Bloomberg 2023 bei 1,3 % in den USA und bei 0,6 % in der Eurozone liegt. Dies lässt erkennen, dass Unternehmen in einem Umfeld, in dem Arbeitskräfte rar und damit teuer sind, dazu neigen, Arbeitnehmer länger zu halten, als es unbedingt erforderlich wäre. Der daraus resultierende Anstieg der Lohnstückkosten zieht eine geringe Steigerung der Produktivität nach sich, was wiederum die Inflation nachhaltig begünstigt und dem Wachstum schadet.

Fragmentierung des Welthandels und Klimaerwärmung erhöhen Inflationsrisiko

Letztendlich erhöhen bestimmte langfristige Faktoren, auf die die Zentralbanken keinen Einfluss haben, gar nicht einmal so sehr die Inflation an sich, sondern vielmehr das Inflationsrisiko. Auf dem Treffen in Sintra erwähnte der Weltwährungsfonds zwei von ihnen, nämlich zum einen die Fragmentierung des Welthandels und zum anderen die Risiken im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung.

Gewiss gibt es andere Wirtschaftszweige, die diesen Aufwärtsdruck teilweise ausgleichen. So geben in den USA und langsam auch in Europa die Immobilienpreise nach. Das trifft auch auf die Preise einiger Produkte des verarbeitenden Gewerbes zu, wie etwa Elektronik-Chips, deren Preise aufgrund der Verwerfungen in den Fertigungs- und Lieferketten im Zuge der Coronakrise stark angestiegen waren. Diese Probleme sind mittlerweile zum größten Teil gelöst.

Doch im Dienstleistungssektor ohne Wohnungswesen, der einen großen Teil der Wirtschaft ausmacht, ist das Inflationsrisiko so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Mit ein paar Prozent über 2 % ist ihr Niveau gewiss nicht extrem. Aber sie ist hartnäckig. Die Inflation von 10 % auf 5 % zu drücken, war für die Zentralbanken nicht schwierig. Sie mussten lediglich zulassen, dass sich bestimmte überhitzte Märkte selbst regulieren. Von 5 % auf 4 %, dann auf 3 % und letztendlich auf 2 % zu kommen, wird hingegen immer schwieriger, vor allem wenn sie eine ausgeprägte Rezession vermeiden wollen.

Der härteste Teil eines Marathons ist selten die erste Hälfte. Es sind vielmehr die letzten Kilometer, die einem endlos vorkommen.

(LFDE)

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