Das jährliche Sommersymposium der US-Notenbank in Wyoming stellt einen wichtigen Datenpunkt für die Finanzmärkte dar, da es wertvolle Anhaltspunkte für die geldpolitischen Maßnahmen der Fed in den folgenden zwölf Monaten liefert. Dieses Jahr wird keine Ausnahme sein, und die Anlegergemeinschaft sollte genau hinhören. In der Regel tut sie das jedoch nicht, was einerseits zu Marktvolatilität, andereseits aber auch zu Chancen führt.
Die durchschnittliche Inflation steht im Mittelpunkt
Nehmen wir zum Beispiel die letztjährige Sitzung, auf der die Fed ihren neuen Inflationsrahmen „Average Inflation over Time“ (AIT) vorstellte. Der Ausschuss und der Vorsitzende Powell haben sich seither fest an diesen Rahmen gehalten. In den letzten zwölf Monaten hat Powell immer wieder betont, dass die Fed die Zinsen nicht präventiv aufgrund von Befürchtungen vor einer Überhitzung des Arbeitsmarktes oder einer beschleunigten Inflation anheben wird. Eine Schlüsselkomponente ihres neuen AIT-Rahmens ist, dass sie tatsächliche Daten und nicht nur Prognosedaten sehen will, zumal ihre Inflationsprognosen von 2012 bis 2020 wiederholt verfehlt oder unterschritten wurden. Wir haben in den letzten 10 Jahren bis zur Pandemie eine Disinflation erlebt. Daher geht die Fed sehr vorsichtig vor.
Die zweite Schlüsselkomponente des AIT liegt in diesen Wörtern: Average Inflation over Time -Durchschnittliche Inflation im Zeitverlauf. Für die Fed ist es wichtig, dass sich die Inflation durchsetzt und ein nachhaltiges Phänomen ist. Daher liegt es nahe, dass sie die Inflationsdaten über einen längeren Zeitraum, mindestens drei Jahre, betrachtet und sich nicht nur auf einige wenige veröffentlichte Inflationsdaten stützt. Ein Blick auf die rollierende 3-Jahres-Kerninflationsrate der persönlichen Konsumausgaben (PCE) wäre zum Beispiel angemessener. Dieses Maß wird wahrscheinlich auch 2022 unter dem 2-Prozent-Ziel der Fed bleiben – daher die Geduld der Fed. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die Hürde für inflationsbedingte Zinserhöhungen unter dem neuen Fed-Rahmen extrem hoch ist.
Tapering wahrscheinlich nicht vor 2022
Da sich die Fed in diesem Jahr angesichts ihres neuen AIT-Rahmens sehr geduldig gezeigt hat, könnte sie sich dafür entscheiden, dieses Konzept noch zu untermauern, indem sie sich mit einem anhaltend uneinheitlichen Beschäftigungsbild und einer niedrigen durchschnittlichen Inflation befasst. Das Thema des diesjährigen Symposiums lautet „Wirtschaftspolitik in einer unausgewogenen Wirtschaft“. Dies impliziert, dass der Schwerpunkt der Diskussionen auf der ungleichen Beschäftigung und der zunehmenden Ungleichheit liegt, die durch den technologischen Fortschritt und die Digitalisierung verursacht wird. Dies bedeutet, dass die Fed eine Reduzierung der Ankäufe von Vermögenswerten wohl kaum in Erwägung ziehen wird, solange der Arbeitsmarkt nicht breit angelegte und integrative Erholungssignale zeigt.
Gouverneurin Brainard hat sich zu diesem Thema recht klar geäußert. Bei der Beurteilung wesentlicher weiterer Fortschritte beim Tapering würde sie gerne „Indikatoren sehen, die zeigen, dass die Fortschritte bei der Beschäftigung auf breiter Basis und umfassend sind, anstatt sich nur auf die aggregierte Gesamtbeschäftigungsquote zu konzentrieren“. In ihren jüngsten Äußerungen vom 30. Juli in Aspen, Colorado, wies sie darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch sei und weiterhin unverhältnismäßig stark unter Afroamerikanern, Hispanoamerikanern und Niedriglohnempfängern im Dienstleistungssektor ausgeprägt sei. Nach Angaben ihres Büros gab es im Juni immer noch einen erheblichen Mangel an gering qualifizierten Arbeitskräften im Haupterwerbsalter und an Afroamerikanern. Dies entspricht einem Defizit von 9,1 Millionen Arbeitsplätzen im Vergleich zum Trend vor der Pandemie – ein besonders viel beachteter Indikator der Fed.
Vor diesem Hintergrund könnte es zwar gut sein, dass auf dem diesjährigen Symposium über eine Drosselung der Ankäufe von Vermögenswerten gesprochen wird, dies aber erst irgendwann im Jahr 2022 umgesetzt wird, zumal Powell im März 2021 über niedrige Beschäftigung und Inflation sprach: „Wir hatten 2018, 2019 und Anfang 2020 eine niedrige Arbeitslosigkeit, ohne dass die Inflation beunruhigend war“. Dies könnte ihn dazu veranlassen, das Tapering zu verzögern, um eine gleichmäßigere Erholung der Beschäftigung auf einer sicheren Grundlage zu gewährleisten.
Delta-Variante könnte Tapering noch weiter verzögern
Ein weiterer Grund für eine Verschiebung des Tapering auf später im Jahr 2022 sind die mit der Delta-Variante verbundenen Risiken. In vielen Gebieten sind die Impfraten nicht so hoch wie erhofft und könnten den Aufschwung in den Dienstleistungssektoren dämpfen, die laut Frau Brainard für drei Viertel des Arbeitsplatzabbaus verantwortlich sind. Dies würde darauf hindeuten, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, um weitere substanzielle Fortschritte bei der Beschäftigung zu erzielen und bevor mit der Reduktion der Vermögenswertankäufe durch die Notenbanken begonnen wird.
Es sei daran erinnert, dass sich die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nach der großen Finanzkrise 2008/2009 nur sehr langsam verbessert haben, obwohl die Fed überaus akkommodierend und geduldig vorging. Dies könnte sich dieses Mal wiederholen, insbesondere angesichts der schnellen Fortschritte des globalen Digitalisierungstrends. Was Europa betrifft, so wird die EZB wahrscheinlich dem Beispiel der Fed folgen, da die Polarisierung bei der Beschäftigung auch für Christine Lagarde ein wichtiges Thema ist.
Die Märkte könnten sich überrascht zeigen über die Möglichkeit, dass die Fed ihre Wertpapierkäufe fortsetzt, bis ein tatsächlicher Beschäftigungszuwachs auf breiter Basis erreicht ist. Dies liegt daran, dass die Märkte dazu neigen, sich auf aggregierte Arbeitsmarktdaten zu konzentrieren, was sie zu der Annahme veranlasst, dass die Fed bereits in relativ naher Zukunft mit der Drosselung beginnen wird. Dies würde die Zurückhaltung der Fed verstärken und sowohl Staats- als auch Unternehmensanleihen, insbesondere nachrangige Investment-Grade-Strukturen und Hochzinsanleihen, unterstützen. Insgesamt scheint es in einem unausgewogenen und der Digitalisierung unterworfenen Wirtschaftsumfeld schwierig zu sein, das Regime „lower for longer“ zu ändern.