Man muss sich das mal klarmachen: Seit dem post-Brexit-Einbruch Ende Juni haben sich die Aktienmärkte in den Industrieländern unfassbar positiv entwickelt. Der amerikanische S&P 500 legte um gut 9 Prozent zu, der japanische Nikkei um knapp 9 Prozent, und europäische Indizes gewannen gar zweistellig. Gut 10 Prozent betrug der Kursgewinn beim Eurostoxx, und noch ein Prozent mehr war es beim DAX. Aber den Vogel abgeschossen hat ausgerechnet der britische FTSE-Index, der sich mit knapp 13,6 Prozent Zugewinn seit dem 27. Juni an die Spitze der bedeutendsten Indexmaße setzte.
Was in aller Welt veranlasst Aktieninvestoren, derart optimistisch zu sein? Ist es boomendes weltweites Wirtschaftswachstum, welches rosige Aussichten auf sprudelnde Unternehmensgewinne verheißt? Sind es vielleicht die politischen Ereignisse, die zuletzt zwar bedrohlich aussahen, sich am Ende aber alle auf wundersame Weise zum Positiven fügen werden? Oder steckt hinter den Wetten die zynische Annahme, dass nicht sein kann, was nicht sein darf und deshalb gefallene Entscheidungen, geschaffene Fakten jederzeit revidiert werden können, sollten sich ihre Konsequenzen als unerfreulich erweisen?
Fast mag man zumindest Letzteres als gegeben annehmen. Das britische EU-Referendum als etwas zu lesen, über das man nach kurzem Schütteln wieder zur Tagesordnung übergehen kann, wie es die Märkte offenbar tun, ist schon bemerkenswert. Dabei hatten nicht wenige kommentiert – und dieser Sichtweise schließe ich mich an – , dass der Brexit nicht nur der größte anzunehmende Unfall für die politische Integration Europas ist, sondern auch ökonomisch für Großbritannien und darüber hinaus sehr negative Folgen haben dürfte. Von den Folgen für Europa vermittelt die erschreckende Ratlosigkeit in Brüssel und anderen Hauptstädten einen ersten Eindruck. Die wirtschaftlichen Folgen werden inzwischen von verschiedenen namhaften Institutionen, darunter die Bank of England und das DIW, mit einer Wachstumsverlangsamung in Großbritannien in der Größenordnung von 1,0-1,5 Prozentpunkten für das Jahr 2017 veranschlagt, manche rechnen gar mit einer Rezession. Und während sogar in Londoner Toplagen die Hauspreise erste Bremsspuren zeigen und Frühindikatoren massive Jobverluste indizieren, steigt das britische Aktienbarometer auf den höchsten Stand seit einem Jahr, nur noch gut 4 Prozent entfernt vom Allzeithoch im Frühjahr 2015.
Erklärbar wird dieser Optimismus nicht etwa durch großartige Wachstums- und Gewinnaussichten der Unternehmen. In Großbritannien wie anderswo in den Industrieländern ist diesbezüglich der Ausblick eher auf Moll gestimmt, für 2016 insgesamt wird mit einem Rückgang der Gewinne gerechnet. Stattdessen steckt hinter der Aktienrally wohl vielmehr die Erwartung, dass alles nicht so schlimm kommen wird wie befürchtet. Entweder werde ein „soft Brexit“ dafür sorgen, dass Großbritannien zwar, wie von Farage, Johnson & Co. versprochen, die größten Ärgernisse wie etwa EU-Beiträge und Regulierung loswerde, aber weiterhin wie bisher im Binnenmarkt mitmachen dürfe. Oder aber es gebe sogar einen „Exit vom Brexit“, etwa wenn eine Bevölkerungsmehrheit die Folgen ihrer unseligen Entscheidung am eigenen Leibe zu spüren bekäme. Beide Szenarien offenbaren nicht nur ein eigenartiges Demokratieverständnis, sondern im Fall von „soft Brexit“ auch ein bemerkenswertes Maß an Geringschätzung für das Verhandlungstalent der EU-Seite. Auf derartige Annahmen umfangreiche Kapitalmarktwetten aufzubauen, klingt in jedem Fall nach Pfeifen im Walde.
Was bedeutet das für Anleger?
Dass sich die sonst noch auf dem Plan stehenden politischen Risiken freundlich in Luft auflösen werden, ist aus meiner Sicht ebenfalls zweifelhaft. Zwar nimmt zurzeit die Wahrscheinlichkeit täglich zu, dass es Hillary Clinton am 8. November mit einem anderen Gegner als Donald Trump zu tun bekommt. Aber bis zur erzwungenen Demission des erratischen Immobilienmoguls ist es noch ein weiter Weg, auf dem das Ansehen der Vereinigten Staaten weiteren Schaden nehmen dürfte. Ironischerweise dürfte selbst ein solcher neuerlicher Tiefpunkt aber dem Urteil risikoscheuer Investoren, die im Falle wieder aufflackernder Volatilität auch diesmal ihr Heil in den tiefen, breiten US-Märkten suchen werden, kaum etwas anhaben. Denn politische Risiken gibt es schließlich auch in Europa zur Genüge, denken wir neben dem oben besprochenen Brexit an Themen wie die Regierungslosigkeit in Spanien, das anstehende Verfassungsreferendum in Italien oder die von Präsident Erdogan immer mehr aus der Bahn geworfene Wirtschaft in der Türkei, letzteres auch mit Blick auf das Risiko einer neuerlichen Eskalation der Flüchtlingskrise.
Vor diesem Hintergrund weiter schulterzuckend auf die Zentralbanken zu setzen, könnte sich als zu kurz gesprungen erweisen. Zwar wird die Fed wohl trotz des bombenfesten Arbeitsmarktberichtes vom Freitag im September nicht die Zinsen erhöhen, aber ob es die EZB der Bank of England gleichtut und noch einmal mehr Stimulus nachlegt, erscheint zweifelhaft. Eher verdichten sich die Anzeichen, dass die großen Notenbanken selbst dem Nutzen weiterer monetärer Lockerung zunehmend skeptisch gegenüber stehen und immer mehr dazu tendieren, stattdessen der Fiskalpolitik den Staffelstab weiterzureichen. Die krisenerprobte Bank of Japan könnte auch hier der Kanarienvogel in der Kohlemine sein, das entsprechende Experiment läuft an. Kommt der Vogel nicht wieder heraus, können wir davon ausgehen, dass er tot ist.