Der „Dorsch“ – das wohl wichtigste Lexikon der Psychologie – beschreibt den Realitätsverlust als einen meist temporär auftretenden Zustand, in dem es den Betroffenen nicht möglich ist, einzelne oder mehrere Objekte der Umwelt in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem eigenen Denken und Handeln zu bringen. Dabei äußern die Betroffenen oftmals Gedanken oder zeigen Verhaltensweisen, die von der Außenwelt als nicht nachvollziehbar oder verstehbar erlebt werden.
Dies beschreibt zutreffend das, was sich seit inzwischen einem Jahr an den maßgeblichen Börsen weltweit abspielt. In Anlehnung an einen alten Sponti-Spruch könnte man wohl formulieren: „Stell dir vor, es ist Krise und keiner geht hin.“ Dabei handelt es sich ja derzeit eher um eine multiple Krise, denn mit einer genauen Definition wie beispielsweise „Finanzkrise“ oder „Eurokrise“ oder „dot.com-Krise“ kann nicht gedient werden. Die Welt spielt verrückt. Die Börsen auch. Aber sie spielen nicht synchron. Denn während der DAX auf Jahressicht seit Oktober letzten Jahres um 27 Prozent gestiegen ist, gab es in der „realen Welt“ Krisen en masse: Krieg in der Ukraine und nun auch im Nahen Osten, Energiewende, Inflation, drastisch gestiegene Zinsen, Decoupling von China, eine absolute Rekordzahl an weltweiten Sanktionen, eine Rekordzahl an Exportkontrollen, an Kapitalmarkt-Einschränkungen und Investitionsbeschränkungen … die Liste ließe sich fortsetzen. Argumente, warum die Börsen weiter steigen oder umgekehrt einbrechen, findet man zur Genüge. Niemand aber kann auch nur annähernd zuverlässig einschätzen, ob die bislang nur leichten Verluste von August und September der Anfang einer kräftigen Korrektur oder gar Baisse sind oder ob es sich nur um eine kurze Verschnaufpause auf dem Weg zu neuen Höchstständen handelt. Eines aber ist klar: Um die Kursanstiege dauerhaft zu rechtfertigen, bedarf es eines entsprechenden Gewinnwachstums der Unternehmen. Hoffnungen auf die Veränderung der Welt durch die Künstliche
Intelligenz mögen langfristig gerechtfertigt sein. Aktuell kann man ihr Stadium aber eher mit dem des Internets um die Jahrtausendwende vergleichen. Alle damals gehegten Hoffnungen erfüllten sich, doch zunächst gab es einen massiven Kurssturz.
Die Geschichte muss sich nicht zwingend so wiederholen. An einer kräftigeren Korrektur der gestiegenen Kurse kommt man jedoch sicher nicht vorbei. Je stärker der weitere Anstieg, desto stärker die Korrektur – diese Faustformel dürfte auch künftig gelten. Da niemand den exakten Tiefpunkt prognostizieren kann, empfiehlt sich ein Einstieg auf Raten, mit dem man am besten beginnt, wenn die Stimmung im Keller ist. Dies könnte schon bald der Fall sein.
JÜRGEN DUMSCHAT