An apokalyptischen Szenarien für den stationären Einzelhandel besteht beileibe kein Mangel. Die schwächelnde Konjunktur und die steigenden Anzeichen eines zyklischen Abschwungs nähren derzeit auch eher die Phantasien von Untergangspropheten als dass sie Argumente für kaufwillige Investoren liefern. Insbesondere zu einem Zeitpunkt, in dem Märkte und Teilbranchen in Bausch und Bogen abgeschrieben werden und einige Profianleger pauschal die Segel streichen, hilft es jedoch die Empfangsbereitschaft für positive Signale zu schärfen, die einige Einzelhandelsmärkte in Europa derzeit aussenden.
„Investoren tendieren dazu, Märkte aufgrund von politischen Wirren zu stark abzustrafen. Die Realitäten in einigen Märkten wie Italien oder Spanien zeigen jedoch ein anderes Bild. Für opportunistische Investments bieten sich im aktuellen Marktumfeld unverändert Spielräume in Europa“, sagt Henrike Waldburg, Leiterin Investment Management Retail bei Union Investment.
Wie der aktuelle Global Retail Attractiveness Index (GRAI) von Gfk und Union Investment zeigt, sind die meisten Einzelhandelsmärkte in Europa in ihren Grundfesten intakt. Obwohl Handelsstreit, Brexit-Diskussion sowie eine generelle Konjunkturabkühlung gewisse Spuren bei der Verbraucher- und Händlerstimmung hinterlassen haben, bleibt der Retail Index für die 15 größten europäischen Märkte im zweiten Quartal 2019 relativ stabil. Auch weist der EU-15-Index mit 112 Punkten und einem kleinen Minus von drei Zählern gegenüber dem zweiten Quartal 2018 (115 Punkte) nach wie vor ein überdurchschnittliches Niveau auf. Dies auch im Vergleich zum Nord-Amerika-Index (107 Punkte; -8 Punkte) und zum Asien-Pazifik-Index (103 Punkte; -7 Punkte). Als wesentliche Stütze erweisen sich dabei die europäischen Arbeitsmärkte, die ihre seit fünf Jahren bestehende Robustheit bestätigen. Die hieran anknüpfende gute Verbraucherstimmung in weiten Teilen Europas verleiht dem Retail Index zusätzliche Stabilität.
Portugal und Deutschland bestätigen Top-Platzierungen
Mit 121 Punkten (-5 Punkte gegenüber dem zweiten Quartal 2018) bestätigt Portugal seine Spitzenposition im EU-15-Index. Das Land ist zwar bei der Verbraucherstimmung zurückgefallen, bei den Arbeitsmarktdaten und den Umsätzen im Einzelhandel weisen die Portugiesen jedoch erneut exzellente Werte vor. Zum Kreis der Top-Performer zählt auch weiterhin Deutschland mit 120 Punkten (-3 Punkte). „Die sehr gute Verbraucherstimmung hierzulande sorgt mit den soliden Umsatzzahlen und Arbeitsmarkdaten dafür, dass auch ausländische Kapitalsammelstellen den deutschen Einzelhandel trotz stagnierender Mieten für opportunistische Investments sondieren“, so Henrike Waldburg.
Im Kreis der europäischen Top-Five hat sich auch Polen etabliert und trägt mit 114 Punkten (-8 Punkte) wieder überdurchschnittlich zum guten Niveau des EU-15-Index bei. Hier blieben jedoch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt als auch der starke Einbruch im Händlersentiment sowie auch steuerliche Themen zu beobachten, so Henrike Waldburg. Auch habe Polen noch großen Nachholbedarf im Online-Bereich – ein Faktor, der verzögert Einfluss auf die Einzelhandelslandschaft des Landes nehmen werde.
Zu festen Größen im Index haben sich auch die ehemaligen Sorgenkinder in der Euro-Peripherie entwickelt. Mit jeweils 113 Punkten haben sowohl Spanien als auch Irland ihren Kurs bestätigt und den Abstand zum Führungstrio noch einmal verringert. „Vom spanischen Einzelhandel, speziell Madrid und Barcelona, gehen seit etwa vier Jahren positive Signale aus. Bei einem heute noch sehr geringen Niveau dürfte der Anteil Spaniens an den Exposures mittelfristig signifikant steigen“, so Henrike Waldburg.
Tschechien, Belgien und Schweden mit Vorsicht beobachten
Anderswo geben auffällige Veränderungen in den nationalen Indizes Anlass, Investitionsentscheidungen auf den Prüfstand zu stellen. Die stärksten Verluste verbuchte im Jahresverlauf Tschechien, das sich vor sechs Monaten noch in der Spitzengruppe vor dem deutschen Einzelhandelsmarkt platzieren konnte. Die deutlichen Verluste, die sich durchgängig bei allen vier Indikatoren eingestellt haben, summieren sich in Tschechien auf ein Minus von 15 Punkten, was bei jetzt 110 Punkten nur noch Platz Acht im neuen EU-15-Ranking bedeutet.
Auch in Belgien und Schweden dürften die Segel für Einzelhandelsinvestments weiter eingerollt bleiben. Mit jeweils 101 Punkten bilden diese Länder im zweiten Quartal das gemeinsame Schlusslicht im EU-15-Index. Was auffällt: Durch das unverminderte Wachstum bei den Einzelhandelsumsätzen konnte der weitere Absturz des UK-Index zum zweiten Quartal 2019 zunächst aufgehalten werden. Mit einem mageren Plus von jeweils einem Punkt sind Großbritannien und Italien sogar die einzigen Länder, deren Entwicklungen im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum nach Oben zeigen. Mit 107 Punkten liegt Großbritannien zum zweiten Quartal 2019 auf dem gleichen Niveau wie Frankreich. Die Bestandsaufnahme im Brexit-gepeinigten Königreich wirkt jedoch nur auf den ersten Blick überraschend. „Die Brexit-Entscheidung hat noch keine neuen Realitäten geschaffen, weder für den Konsumenten, noch den Arbeitsmarkt oder den Umsatz im Einzelhandel. Erlebt UK den erwarteten dramatischen Absturz seines BIP, wird der Einzelhandel die Auswirkungen neben dem Logistiksegment und vermutlich auch der Hotellerie am unmittelbarsten spüren“, erwartet Henrike Waldburg.
Zur Methodik
Der Global Retail Attractiveness Index (GRAI) von Union Investment bildet die Attraktivität der Einzelhandelsmärkte von insgesamt 20 Ländern in Europa, Amerika und Asien-Pazifik ab. Dabei bedeuten 100 Indexpunkte eine durchschnittliche Bewertung. In den EU-15-Index gehen die Indizes der EU-Länder Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Österreich, Niederlande, Belgien, Irland, Portugal, Polen und Tschechien ein, gewichtet mit ihrer jeweiligen Bevölkerungszahl. In den Nordamerika-Index gehen die Indizes der USA und Kanadas ein; der Asien-Pazifik-Index berücksichtigt Japan, Südkorea und Australien. Der GRAI setzt sich aus zwei Stimmungsindikatoren und zwei datenbasierten Indikatoren zusammen. Alle vier Faktoren gehen gleichgewichtet, d.h. mit jeweils 25 Prozent, in den Index ein. In den Index fließt sowohl die Stimmung der Nachfrageseite (Consumer Confidence) als auch die Stimmung der Angebotsseite (Business Retail Confidence) ein. Als quantitative Input-Faktoren werden die Veränderung der Arbeitslosigkeit und die Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes (rollierend 12 Monate) in den GRAI einbezogen. Nach Standardisierung und Transformation haben die Input-Faktoren jeweils einen Mittelwert von 100 sowie einen theoretischen Wertebereich von 0 bis 200 Punkte. Dem Index liegen Daten aus aktuellen Quellen von GfK, EU-Kommission, OECD, Trading Economics, Eurostat sowie der nationalen Statistikämter zugrunde. Die dargestellten Veränderungen beziehen sich jeweils auf den entsprechenden Zeitraum des Vorjahres (Q2 2018).
(Union Investment Real Estate GmbH)