Taktieren, verschleppen, zermürben – geht es um die Regulierungspraxis von Versicherern, stößt man nicht selten auf diese Begriffe. Gerade in der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) wird der Assekuranz häufig Leistungsverweigerung mit System unterstellt. Aber was ist wirklich dran an diesem Vorwurf? Die Ratingagentur Franke und Bornberg geht der Frage auf den Grund. Sie untersucht für ihr BU- Unternehmensrating seit 2004 ausgewählte BU-Versicherer und hat 2014 erstmals Fakten zur BU-Regulierung als „BU-Leistungspraxis-Studie“ öffentlich zugänglich gemacht.
Jetzt stellt Franke und Bornberg eine Neuauflage der Studie vor. Wie bei der letzten Untersuchung ließen auch diesmal die Versicherer AachenMünchener, ERGO, HDI, Nürnberger, Stuttgarter, Swiss Life sowie Zurich Deutscher Herold die Prüfer für eine umfassende Analyse ins Haus. Sie stehen für 4,7 Millionen BU-Versicherte sowie einen Leistungsbestand von rund 76.000 Verträgen. Allein 2014 verzeichneten die untersuchten Versicherer 22.100 Neuanmeldungen und damit – aufgrund ihrer Marktstellung im BU-Geschäft – mehr als die Hälfte aller Anträge auf private BU-Leistungen in Deutschland.
Die Untersuchung liefert belastbare Daten, die zur Versachlichung der Diskussion beitragen können. Neben umfangreichem Datenmaterial setzt Franke und Bornberg auf detaillierte anonymisierte Stichproben vor Ort. Die Ratingexperten analysierten je Versicherer mindestens 100 Leistungsfallanmeldungen und deren Verlauf. Ablehnungen wurden aufgrund ihrer Bedeutung für Kunden überproportional berücksichtigt.
Bei drei von vier Anträgen wird gezahlt
Die Wahrscheinlichkeit, dass Versicherte eine beantragte BU-Leistung auch tatsächlich erhalten, ist hoch. Drei von vier BU-Anträgen werden anerkannt. Damit liegt die Leistungsquote deutlich höher als in der gesetzlichen Rentenversicherung, wo nur jedem zweiten Antrag auf Erwerbsminderungsrente stattgegeben wird. Die Quote von 75 Prozent berücksichtigt keine Anträge, die Versicherte nicht weiter verfolgt oder zurückgezogen haben. Das geschieht übrigens erstaunlich oft. Viele Antragsteller senden den Fragebogen ihres Versicherers trotz Erinnerung nicht zurück.
Fast die Hälfte aller Ablehnungen ist darauf zurückzuführen, dass der vereinbarte BU-Grad – meist 50 Prozent – nicht erreicht wurde. Ein weiteres Viertel aller negativen Entscheide resultiert aus Anfechtungen und Rücktritten. Das legt Rückschlüsse auf die Qualität der Beratung nahe. Aber nicht immer gehen Verletzungen der Anzeigepflicht auf das Konto des Vermittlers. Auch Kunden lassen sich von dem Irrglauben leiten, den gewünschten Schutz nur mit falschen Angaben zu erhalten.
Weniger Rücktritte – aber noch zu viel Anfechtungen und Rücktritte sind zwar seit Jahren prozentual rückläufig, ihr Anteil ist aber immer noch zu hoch. Denn beide haben für Versicherte fatale Konsequenzen: Sie bekommen keine Leistungen und verlieren überdies ihren Versicherungsschutz für die Zukunft. Da sich Rücktritte und Anfechtungen zumeist als gerichtsfest erweisen, sollten Versicherer auf die Rechtsfolgen falscher Angaben im Antrag noch deutlicher als bisher hinweisen.
Abstrakte und konkrete Verweisung sowie die Forderung nach Umorganisation des Arbeitsplatzes sind auf dem Rückzug und machen weniger als drei Prozent aller Ablehnungen aus. Michael Franke, geschäftsführender Gesellschafter von Franke und Bornberg, erläutert die Details: „Anders als die öffentliche Diskussion manchmal glauben macht, führt die abstrakte Verweisung nur ein Schattendasein. Obwohl sie häufig als gravierendes Manko gilt, war sie im Jahr 2014 nur für 0,4 Prozent aller Ablehnungen verantwortlich.
“ Befristungen und Vereinbarungen Nach § 173 VVG muss der Versicherer erklären, ob er seine Leistungspflicht anerkennt und darf das Anerkenntnis nur einmal zeitlich befristen. Für Individualvereinbarungen über zeitlich befristete Leistungen gilt die Beschränkung auf (nur) eine Befristung im Übrigen nicht. Zum Ablauf der Frist trifft den Versicherten erneut die Beweislast für seine Berufsunfähigkeit. Erfreulicherweise ist der Anteil von zeitlichen Befristungen und individuellen Vereinbarungen rückläufig. Sie machten 2014 nur elf Prozent aller Regulierungen aus (von 17 Prozent im Jahr 2007). Versicherte profitieren von dieser Entwicklung und erhalten mehr rechtliche sowie wirtschaftliche Sicherheit.
Wie lange dauert es? Wie lange brauchen Versicherer bis zur Entscheidung? Franke und Bornberg misst diesen Zeitraum ab Eingang der Meldung beim Versicherer. Reicht ein Antragsteller den Fragebogen des Versicherers verspätet ein oder verzögern sich Arztberichte, wird dies also dem Versicherer zugerechnet. Die untersuchten Unternehmen brauchten für ihre Entscheidung über alle Fälle hinweg durchschnittlich 168 Tage (nach 171 Tagen im Jahr 2013). In der Stichprobe vor Ort war die Dauer mit rund 196 Tagen knapp einen Monat länger, weil Ablehnungen hier mit 75 Prozent überproportional vertreten sind. „Pauschal kann man sagen: Ablehnungen dauern länger“, konstatiert Michael Franke. „Während über Anerkennungen nach 179 Tagen entschieden wurde, brauchen Versicherer für eine Ablehnung im Durchschnitt 201 Tage. Sie machen sich ihre Entscheidung also keineswegs einfach. Wichtige Faktoren für die langen Regulierungsdauern sind zudem Entbindungen von der Schweigepflicht, die der Kunde erteilen muss sowie externe Gutachten. Auch im Rahmen der Untersuchung 2015 konnten wir bei keiner Gesellschaft Anzeichen für eine systematische Verschleppungstaktik feststellen.
“ Gutachten und Prozesse Gerade im Bereich der BU benötigen Gutachter besondere Expertise. Versicherer beauftragen daher häufig Universitätskliniken oder spezialisierte Gutachterbüros. Aber deren Kapazität ist begrenzt und wird bereits zum großen Teil durch Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung ausgeschöpft. Lange Antwortzeiten sind an der Tagesordnung. Als Reaktion auf diesen Engpass setzen Versicherer zur Verkürzung der Bearbeitungszeiten zunehmend auf Gutachter im eigenen Haus. Ob dies der geforderten Neutralität zuträglich ist, bleibt offen. Im Durchschnitt beauftragten die Gesellschaften nur in 6,6 Prozent aller Leistungsfälle einen externen Gutachter. In der Stichprobe war das bei 10,9 Prozent der untersuchten Schadenakten der Fall. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) machen psychiatrische Gutachten aus, gefolgt von den Fachrichtungen Orthopädie (25 Prozent) sowie Neurologie (18 Prozent). Aus Sicht von Michael Franke liegen die Gründe auf der Hand: „Der Anstieg psychischer Erkrankungen ist dramatisch. Ein Leistungsprüfer kann nur selten vom Schreibtisch aus beurteilen, ob der Versicherte tatsächlich berufsunfähig ist. Hier sind Gutachter mit hoher Spezialisierung gefragt.“ Für eine Bevorzugung vermeintlich „Versicherer-freundlicher“ Gutachter liefern die Studienergebnisse keine Anhaltspunkte. Im Rahmen der Stichprobe von über 700 Fällen wurden 77 Gutachten bei 55 verschiedenen Gutachtern in Auftrag gegeben. Darüber hinaus zeigt sich eine breite regionale Streuung. Will der Versicherer nicht leisten, steht Versicherten der Klageweg offen. Davon machten 678 Kunden der untersuchten Gesellschaften Gebrauch (drei Prozent aller Entscheidungen). Verloren haben die Versicherer nur 59 Prozesse (8,7 Prozent). Der Rest teilt sich auf in Vergleiche (447) und gewonnene Prozesse (172). Gegenüber den Vorjahren ist die Zahl der verlorenen Prozesse auf Seiten der Versicherer deutlich gesunken. Sie machten 2014 gerade mal 0,32 Prozent aller Regulierungen aus.
Fazit Die Regulierungspraxis der untersuchten Versicherer zeigt, über den Gesamtbestand gesehen, auch für das Jahr 2014 keine besonderen Auffälligkeiten. Der Anteil von Rücktritten und Anfechtungen sinkt weiter, bleibt jedoch immer noch auf hohem Niveau. Die durchschnittliche Regulierungsdauer nimmt bei fast allen Gesellschaften zu, trotz vielfältiger Projekte zur Optimierung der Arbeitsprozesse. Naheliegend ist, die Ursache vor allem im Anstieg psychischer Erkrankungen zu suchen. Es gab keine beobachtbaren Unregelmäßigkeiten bei der Auswahl von Gutachtern. Vorwürfe, Leistungen systematisch zu verzögern oder ein strategisches Ablehnungsmanagement zu praktizieren, werden durch Fakten nicht bestätigt. Michael Franke rät der Assekuranz, Prüfprozesse, Bearbeitungszeiten und Ergebnisse der Leistungsprüfung deutlich transparenter aufzubereiten. „Nur so haben Versicherer eine Chance, unrealistischen Erwartungen und Spekulationen entgegenzuwirken. Damit könnten sie auch jenen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die private Vorsorgelösungen pauschal als zu teuer diskreditieren und der Assekuranz Leistungsverweigerung attestieren wollen. Die Absicherung der Arbeitskraft ist schließlich zu wichtig, um sie zum Spielball unterschiedlicher Interessengruppen zu machen.