Über den Sommer hinweg hat sich eine bemerkenswerte Ruhe an den Finanzmärkten ausgebreitet. Bemerkenswert deshalb, weil die Unsicherheiten um zukünftige Wachstumsquellen, weitere Unterstützung seitens der Zentralbanken sowie eine ganze Reihe schwer kalkulierbarer Politikrisiken den Märkten eigentlich genügend Anlässe zur Beunruhigung geboten hätten. Vor allem im Nachgang zu einem Ereignis mit der potentiellen Sprengkraft des Brexit-Referendums mutet die Entspanntheit vieler Marktteilnehmer geradezu unheimlich an. Die Volatilität europäischer Aktien sackte unter 20, weit unter dem bisherigen Jahresdurchschnitt von rund 26. Die US-Märkte verzeichneten sogar Rekordflauten bei den Kursschwankungen. Ist die Volatilität, eines der gängigen Risikomaße für Finanzaktiva, in einen dauerhaften Tiefschlaf übergegangen? Und bedeutet dies im Umkehrschluss, dass das risikofreundliche Umfeld anhält?
Wir glauben, die Antwort heißt nein. Vieles spricht dafür, dass das Jahr nicht so ruhig ausklingt wie der Sommer hoffen ließ. Dafür, dass der Herbst um einiges heißer wird als der Sommer, spricht schon die Batterie von politischen Event-Risiken, die für die nächsten Wochen auf der Agenda stehen, als da wären: Referendum in Italien, eventuell Neuwahl in Spanien, Ultimatum über den Flüchtlingsdeal zwischen Türkei und EU, Präsidentschaftswahl in den USA sowie, last but not least, diverse Zentralbankentscheidungen. Jedes dieser Ereignisse hat das Potential, schon für sich allein die Unsicherheit an die Finanzmärkte zurückzubringen und damit Preisschwankungen bei Risikoaktiva anzuheizen. Und dabei ist noch gar nicht vom Brexit die Rede gewesen und davon, dass dessen ökonomische und politische Folgen bis dato gar nicht vom Markt gepreist werden konnten, einfach weil sie völlig unabsehbar waren.
Mit Blick auf den Brexit fällt nicht nur die markante Outperformance des britischen Aktienindex FTSE auf, der seit dem 27. Juni um über 13% zugelegt hat, sondern zuletzt auch die offenbar blendende Stimmung britischer Unternehmen. Letzte Woche schnellte der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe auf der Insel um spektakuläre 5,1 Punkte nach oben und steht nun mit 53,3 nicht nur wieder klar im Wachstumsbereich, sondern auch oberhalb der Notierung vor dem Brexit. Zwar ist ein Gutteil des Optimismus britischer Industrieunternehmen durch die Pfund-Abwertung zu erklären, aber die Einschätzung, dass die Industrie sogar schneller wachsen könnte als ohne Brexit verwundert dennoch. Zum Bild passt, dass auch die Haushalte ihre noch im Juli an den Tag gelegte Skepsis deutlich relativiert haben: Der britische GfK-Konsumklimaindex stieg im August von -12 auf -7. Im Gegensatz dazu stehen schwächere Konjunktursignale aus den USA. Der ISM-Index für die Industrie fiel um über drei Punkte auf 49,4, also unter die Expansionsschwelle von 50. Dazu kam am Freitagnachmittag die Nachricht, dass die US-Industrie im August 14.000 Arbeitsplätze verloren hat. Außerdem fiel die Zahl der insgesamt außerhalb der Landwirtschaft geschaffenen neuen Stellen mit 151.000 deutlich schwächer aus als vom Konsensus der Marktbeobachter erwartet (180.000).
Uns bestätigen die schwachen US-Daten der vergangenen Woche in unserer Ansicht, dass ein Zinsschritt der Fed am 21. September eher unwahrscheinlich ist. Dies wird weiter untermauert durch die Tatsache, dass der wichtigste Indikator für Inflation, nämlich der Deflator für die persönlichen Konsumausgaben („core PCE“) im August weiter bei 1,6% stehengeblieben ist, also deutlich unterhalb des Inflationsziels der Notenbank. All dies dürfte eine ohnehin zögerliche Fed davon abhalten, den eigentlich längst fälligen Schritt Richtung weiterer Normalisierung zu gehen.
Zunächst einmal ist diese Woche aber die EZB mit ihrer Zinsentscheidung dran. Es spricht einiges dafür, dass Pläne für eine weitere geldpolitische Lockerung schon in der Schublade liegen, denn die Inflationserwartungen für die mittlere Frist – nach EZB-Verständnis sind dies fünf Jahre – sind mit rund 1,3% nach wie vor viel zu niedrig. Allerdings erwarten wir, dass die EZB mit dem logischen nächsten Lockerungsschritt bis zur nächsten oder übernächsten Ratssitzung wartet. Die Bank hat selbst zuletzt darauf hingewiesen, dass ein Gutteil der im März beschlossenen und mehrheitlich im Juni implementierten Maßnahmen erst ihre Wirkung entfalten sollte, bevor man neue Maßnahmen beschließt. Außerdem dürfte die EZB abwarten wollen, dass der Basiseffekt stabilerer Ölpreise in den kommenden Monaten die Inflationsrate – und damit eventuell auch die Fünfjahreserwartungen – nach oben zieht. Alles in allem ist eine weitere Lockerung schon am Donnerstag somit aus unserer Sicht zwar denkbar, dürfte sich aber gegebenenfalls eher auf technische Adjustierungen am Anleihekaufprogramm beschränken.
Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich und Osteuropa bei BlackRock