Als Winston Churchill im Mai 1940 britischer Premierminister wurde, beendete er die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland und setzte gegen Widerstand in seinem eigenen Kabinett eine kompromisslose Haltung durch, die auf einen militärischen Sieg über Nazi-Deutschland abzielte. Es ist nicht überliefert, dass er für diese Entscheidung Ökonomen zu Rate gezogen hätte, die ihm anhand ihrer Modelle vorher ausgerechnet hätten, welche Kosten der Krieg für Großbritannien mit sich bringen und um wieviel Prozentpunkte die britische Wirtschaftsleistung einbrechen würde. Die Entscheidung über ein Rohstoffembargo gegen Russland ist auch heute eine genuin politische: Es geht dabei letztlich darum, welche Wirkung wir von einem solchen Embargo auf die russische Position erwarten, ob wir bereit sind, selbst dafür auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Kosten in Kauf zu nehmen und ob wir eine solche Maßnahme zur Verteidigung unserer eigenen Freiheit für notwendig erachten. Ökonomen können möglicherweise einen Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten, indem sie die wirtschaftlichen Folgen eines Embargos abschätzen. Die Debatte der vergangenen Tage zeigt allerdings eindrücklich vor allem die Grenzen, die einer Sozialwissenschaft wie der Ökonomie in dieser Hinsicht noch immer gesetzt sind.
Historisch präzedenzlose Situation
Drei Faktoren stechen dabei besonders heraus: Erstens ist die Vorhersagekraft von Modellen wesentlich davon abhängig, dass in der Vergangenheit eine vergleichbare Situation schon einmal vorlag, so dass sich die daraus gewonnenen Erfahrungen – in modifizierter Form – auf die Gegenwart anwenden lassen. Dies ist hier nicht der Fall: Für eine massive und wahrscheinlich länger andauernde Störung der Energieversorgung, die die Stilllegung von Industrieanlagen erzwingen und in deren Folge weitreichende Störungen entlang der Wertschöpfungsketten eintreten würden, gibt es kein geeignetes historisches Vorbild. Selbst die Ölpreiskrise der 70er Jahre entfaltete ihre negative Wirkung auf die Gesamtwirtschaft nicht in erster Linie über die Entstehungsseite, sondern über die Nachfrageseite.
Prognosemodelle mit vielen Unwägbarkeiten
Zweitens sind Modelle naturgemäß ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit. Das ist so lange kein Problem, wie die wesentlichen Aspekte eingefangen und von den eher unwesentlichen Aspekten abstrahiert werden kann. Im vorliegenden Fall jedoch gibt es eine Reihe wesentlicher Aspekte, die in ökonomischen Modellen nur sehr schwer bis gar nicht berücksichtigt werden können. Dazu gehören vor allem die logistischen Probleme, die ein Rohstoffembargo auslösen würde: Um die Folgewirkungen abzuschätzen, reicht eine Durchschnittsbetrachtung eben nicht aus, sondern es dürfte wesentlich sein, bei welchen Unternehmen an welchen Standorten eine Substitution von russischem Gas durch andere Rohstoffe möglich ist, mit welchen Kosten das verbunden wäre und wo das – vorerst zumindest – nicht gelingen wird. Drittens schließlich sind dynamische Folgewirkungen schon immer ein großes Problem der Modellbildung gewesen: In einem marktwirtschaftlichen System löst ein exogener Schock Reaktionen aus, die sich oft, aber bei weitem nicht immer vernünftig abschätzen lassen, weil das hierfür erforderliche Wissen überhaupt erst in den ablaufenden Marktprozessen generiert wird. Im vorliegenden Fall betrifft das vor allem die wichtige Frage, in welchem Umfang industrielle Güter, die in Deutschland wegen des Rohstoffembargos nicht mehr hergestellt werden können, aus anderen Regionen bezogen werden können und – in langfristiger Perspektive noch wichtiger – in welchem Maße industrielle Wertschöpfung dadurch für immer verlorengeht.
Wesentliche Fragen bleiben offen
Die Autoren des DIW, des Sachverständigenrates, des IMK und andere, die sich jetzt in Studien mit den Folgewirkungen eines Embargos befasst haben, sind sich hinsichtlich der Einschränkungen, denen ihre Modelle unterliegen, durchaus bewusst. Es würde der gesellschaftlichen Debatte guttun, daraus auch die richtige Konsequenz zu ziehen: Die kann nur darin bestehen, dass jedes Modell für sich genommen wesentliche Fragen unbeantwortet lässt, dass eine hinreichend genaue Abschätzung der Folgen deshalb kaum zu leisten ist und dass es sich genau deshalb um eine politische Entscheidung handeln muss. Der Kern der Debatte wäre dann nicht, ob unsere Wirtschaftsleistung um 2, 3 oder 6 Prozent zurückgeht, sondern die Frage, ob wir hierin eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung sehen wollen. Churchill übrigens war seinerzeit genau dieser Meinung und schwor deshalb seine Bürger darauf ein, ihre Insel (heute: unsere Freiheit) zu verteidigen, „wie hoch auch immer der Preis sein mag“ und versprach, „sich nie zu ergeben“.
(FERI Gruppe)