Wirtschaft

Die Pharmaindustrie erlebt einen tiefgreifenden Wandel

Kommentar von Nina Hodzic, ESG*-Expertin  bei ING Investment Management, Den Haag: Der Ruf der Pharmaindustrie ist fast so schlecht wie der der Tabakindustrie. Das soziale, demografische und ökonomische Umfeld der Pharmaindustrie durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Die Bevölkerungsalterung schreitet voran, sowohl in den entwickelten als auch in den großen aufstrebenden Volkswirtschaften. Das bedeutet eine immense Kostenlast, da die Gesundheitsfürsorge für Ältere teurer ist als für jüngere Altersgruppen. Hinzu kommt ein deutlicher Anstieg der durch Lebensweise und Fehlernährung bedingten Krankheiten. In den größten Industrieländern sind die Fettleibigkeitsraten in den vergangenen 20 bis 30 Jahren um über 50 Prozent gestiegen; eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich mittlerweile in den aufstrebenden Volkswirtschaften ab.

ESG-Themen in der Pharmaindustrie – Tierversuche und Umweltschutz

Aufgrund der starken Regulierung und der Tatsache, dass die Pharmaindustrie menschliche Grundbedürfnisse deckt, bestehen hier zahlreiche ESG-Risiken. Noch vor einem Jahrzehnt waren die wichtigsten ESG-Themen Tierversuche und Zugang zu Arzneimitteln. In den letzten paar Jahren hat die Pharmaindustrie ihre Anstrengungen in diesen Bereichen erheblich intensiviert.

Forschungsgemeinschaften, die Tierversuche einsetzen, gehen jetzt nach dem sogenannten 3R-Prinzip (Replace, Reduce, Refine) zur Vermeidung, Verbesserung und Verminderung der Verwendung von Versuchstieren vor. Damit sollen Tierversuche durch andere Methoden ersetzt (Replace), die Zahl der Versuchstiere auf das unverzichtbare Minimum reduziert (Reduce) und die Methoden verfeinert werden, um Schmerzen und Leiden der Versuchstiere zu minimieren (Refine).

Was den Zugang zu Arzneimitteln betrifft, haben die großen Pharmakonzerne Programme aufgelegt, die jeweils auf ihrem spezifischen Know-how aufbauen. So setzen sich einige Konzerne dafür ein, globale Krankheiten unentgeltlich auszumerzen bzw. zu kontrollieren. Ferner haben sie spezielle F&E-Einheiten eingerichtet, um Medikamente für sogenannte Orphan-Krankheiten zu entwickeln, also jene Erkrankungen, die in tropischen Ländern endemisch sind, denen die Forschung in den Industrieländern aber wenig Beachtung schenkt, wie beispielsweise Dengue-Fieber, Schlafkrankheit und Flussblindheit. Hinzu kommen Preisstaffelungssysteme für wichtige Arzneimittel. Damit soll den Menschen in Entwicklungsländern Zugang zu Medikamenten zu erschwinglichen Preisen verschafft werden. Zahlreiche Unternehmen sind bereit, sich daran zu beteiligen, doch in einigen abgelegenen Gebieten (wie etwa in Indien) fehlt es häufig an Ärzten. In jedem Fall gibt es immer noch Verbesserungsbedarf bei Engagement und Transparenz in der Branche. Die Beschränkung auf Spenden ohne verbindliches strategisches Engagement reicht nicht aus, um die zunehmende Krankheitslast zu bewältigen.

Neben den aufsichtsrechtlichen Anforderungen, wie beispielsweise im Hinblick auf Patente und Lizenzierung, zollen Pharmaunternehmen jetzt auch ethischen Kriterien zunehmende Aufmerksamkeit. Die medizinische Forschung hat sich zum Teil in Niedriglohnländer verlagert, wo die ethischen Vorschriften und Zulassungsvoraussetzungen weniger streng sind als an den entwickelten Märkten. So erhalten Ärzte mitunter übertriebene Zuwendungen, wie Freiflüge zu und kostenlose Unterbringung bei Konferenzen. Zudem ist es in diesen Ländern zum Teil einfacher, Menschen zu finden, die aus finanziellen Gründen bereit sind, an Versuchen und Tests zur Erprobung von Arzneimitteln teilzunehmen.

In den letzten paar Jahren waren Pharmahersteller immer wieder in Skandale verwickelt, in denen es um übermäßige Verschreibung von Medikamenten, zulassungsüberschreitende Off-Label-Vermarkung, wettbewerbswidrige Praktiken, Bestechung, Manipulierung von Forschungsergebnissen und Verschleierung schwerer Nebenwirkungen ging. Auch Umweltthemen haben zwar noch keinen hohen Stellenwert in diesem Sektor, doch sie gewinnen zunehmend an Bedeutung. Das schließt die Umweltverträglichkeit ab F&E-Stadium (z. B. Emissionen ins Wasser) bis hin zu Verdauung und Ausscheidung von Arzneistoffen ein, die somit in den Wasserkreislauf geraten. Die im Oberflächenwasser festgestellten Pharmarückstände können Umweltschäden hervorrufen, sich negativ auf die Wasserlebewesen auswirken und beim Menschen zu Immunität gegenüber Antibiotika führen. Inwiefern der Abbau von im Wasser gelösten Pharmazeutika möglich ist, scheint von der jeweiligen chemischen Zusammensetzung abzuhängen, da viele synthetische Verbindungen resistent gegenüber biologischem Abbau sind. Offenbar gibt es keine Methode zur Abwasserbehandlung, die all diese Verbindungen herausfiltert. Wasserverbrauch ist ein weiteres Problem, da Wassermangel weltweit eine der größten Herausforderungen darstellt.

Die Pharmaunternehmen sind sich ihrer Verantwortung in diesem Bereich bewusst und haben bereits einige Schritte in die richtige Richtung unternommen. Gleichwohl sollten sie mehr Transparenz im Hinblick auf ihre Aktivitäten schaffen (wie zum Beispiel durch Programme und Zielvorgaben zur Reduzierung von Sondermüll und Wasserverbrauch). Wasserverbrauch und Abfallintensität sind unter Umständen keine geeigneten Indikatoren, um Unternehmen unter diesem Aspekt zu vergleichen, denn die Produktion mancher Arzneimittel erfordert mehr Wasser als bei anderen. Die Unternehmen sollten vielmehr darlegen, dass sie ihren Wasserverbrauch und ihr Abfallaufkommen im Laufe der Zeit verringert haben. Diese Faktoren wirken sich unmittelbar auf Verbrauchernachfrage, betriebliche Effizienz sowie die Reputation der Pharmaunternehmen aus und stellen insofern eindeutige Risiken und Chancen für die Unternehmen und ihre Aktionäre dar.

Ausblick

Der wichtigste langfristige Trend in der Pharmaindustrie ist die Verbesserung der Wirksamkeit von Pharmaka bei gleichzeitiger Kostensenkung. Gerade vor dem Hintergrund der Sparmaßnahmen in Europa, die die Arzneimittelpreise drücken, ist das ist eine gewaltige Herausforderung. Die Pharmaunternehmen müssen unter Beweis stellen, dass die Patienten von ihren Produkten profitieren. Zugleich müssen sie der Anlegerschaft überzeugend vermitteln, dass es einen aufnahmebereiten Markt für die neuen Produkte gibt. Politiker, Kostenträger und Patientengruppen spielen im Evaluationsprozess eine immer wichtigere Rolle.

*ESG steht für *ESG-Kriterien: Umwelt-, soziale und Governance-Kriterien, nach den englischen Begriffen „environmental, social and governance“

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