Die EZB wird in den kommenden Jahren ihre geldpolitische Strategie überprüfen. Die Debatte hat bereits begonnen, und sie konzentriert sich derzeit vor allem auf Fragen rund um das Inflationsziel: Ist ein Wert von „unter, aber nahe 2%“ noch angemessen, oder sollte er durch eine Bandbreite ersetzt werden? Soll die Geldpolitik auch Phasen höherer Inflation tolerieren? Sollten die Kosten selbstgenutzten Wohneigentums in der Messung der Inflation berücksichtigt werden? Zu allen diesen Fragen liegen erste Vorschläge auf dem Tisch, deren Für und Wider in den kommenden Monaten intensiv diskutiert werden dürften.
Die Diskussion greift aber zu kurz, wenn sie sich nur auf diese technischen Aspekte beschränkt. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre liegt es nahe, auch den Auftrag der EZB und dessen Interpretation durch die Führung der Zentralbank einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Festgelegt ist dieser Auftrag im Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Demnach besteht das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) darin, Preisstabilität zu gewährleisten. Weit weniger im Fokus steht der unmittelbar folgende Satz: „Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union.“ Bislang hat die EZB ihre geldpolitischen Maßnahmen praktisch immer damit begründet, dass sie Gefahren für die Preisstabilität abwehren muss. Dabei dürfte der Öffentlichkeit allerdings unklar sein, warum eine Inflationsrate, die seit längerer Zeit bei etwa 1,5% liegt (wie das in Deutschland der Fall ist) eigentlich schädlich sein sollte.
Fed nicht nur an Preisstabilität gebunden
Man kann versuchen, die zugrunde liegenden Zusammenhänge besser zu erklären, und Christine Lagarde hat dies offensichtlich vor. Man könnte aber auch einen Blick über den Tellerrand etwa zur Fed werfen: Deren Chef Powell begründete die Kehrtwende der Geldpolitik im laufenden Jahr vor allem mit außenwirtschaftlichen Unsicherheiten, aus denen Risiken für die Konjunktur resultierten. Angesichts einer stabilen Kerninflationsrate zwischen 2% und 2,5% waren Gefahren für die Preisstabilität in den USA offensichtlich kein Thema – Fed-Chef Powell konnte schlicht darauf verweisen, dass Zinssenkungen der Sicherung einer andauernd hohen Beschäftigung dienten.
Blickt man auf das Vorgehen der US-Notenbank, stellt sich die spannende Frage, wie denn eine „Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik in der EU“ durch die Europäische Zentralbank aussehen könnte. Es ist gut vorstellbar, dass die EZB an Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit gewönne, würde sie bestimmte Maßnahmen offensiv mit wirtschaftspolitischen Zielsetzungen begründen. Einer zu starken Ausdehnung ihres Mandats steht zumindest der Vertragstext entgegen, der klar fordert, dass die Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik nicht in Konflikt mit dem obersten Ziel der Preisstabilität geraten darf – auch darüber sollte mindestens ebenso intensiv diskutiert werden wie über die Frage nach dem Inflationsziel selbst.
(FERI Gruppe)