Blickt man dieser Tage auf das Börsengeschehen, entsteht der Eindruck, dass sich die Finanzmärkte von der ökonomischen Realität abgekoppelt haben. Trotz Rekordarbeitslosigkeit in den USA und einem Einbruch der globalen Wirtschaftsleistung, trotz weltweit hoher Corona-Infektionszahlen und geopolitischer Risiken, geht es an den Aktienmärkten unbeirrt nach oben. Der S&P 500 konnte zwischenzeitlich sogar die bisherigen Jahresverluste ausgleichen, bevor die Euphorie durch kurzfristige Abverkäufe gedämpft wurde.
Börsenzyklus vor einem Wendepunkt
Dabei ist eine Börsenrallye während einer Rezession an sich nicht ungewöhnlich. Da die Aktienmärkte der realwirtschaftlichen Entwicklung in der Regel um ein bis zwei Jahre vorauseilen und die CoViD-19-Rezession bereits relativ weit fortgeschritten ist, bewerten die Börsen schon jetzt die Chancen, die sich für die „Zeit danach“ abzeichnen. Eine wichtige Rolle spielen hier die beispiellosen staatlichen Rettungsprogramme, die den Weg für einen Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte 2020 ebnen sollen und die zum Optimismus an den Märkten beitragen. Hinzu kommt die extrem expansive Notenbankpolitik, die massenhaft neue Liquidität geschaffen und damit die Geldbasis aufgebläht hat. In der Folge müssen die relativen Preise von Sachwerten, darunter auch Aktien, zwangsläufig steigen.
Risiken werden verdrängt
Zum Höhenflug der Börsen tragen im Moment jedoch auch viele unerfahrene Privatanleger bei, die Angst haben, etwas zu verpassen. Diese Anleger investieren zum Teil losgelöst von fundamentalen Überlegungen in Aktien. Sie sind auch die Ersten, die bei schlechten Nachrichten wieder verkaufen. Kritisch zu bewerten ist außerdem, dass in der gegenwärtigen Aktien-Euphorie geopolitische Risiken wie etwa die zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA oder der Grenzkonflikt zwischen den Atommächten Indien und China weitgehend ausgeblendet werden. Das Gesamtbild ist also durchwachsen. Für eine Fortsetzung des Börsenaufschwungs sprechen die monetären und fiskalischen Stimuli sowie die allgemeine Erwartung, an einem Wendepunkt im Wirtschaftszyklus angelangt zu sein. Der größte Risikofaktor für die weitere Entwicklung bleibt neben der Geopolitik jedoch weiterhin CoViD-19. Solange keine ausreichende Herdenimmunität erreicht ist, können – wie bereits mehrfach beobachtet – immer wieder neue lokale Infektionsherde entstehen. Diese Gefahr war allerdings absehbar und wird einer fundamentalen Stabilisierung im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2020 nicht im Wege stehen, da in diesen Fällen lediglich lokal begrenzte Schutzmaßnahmen notwendig sind. Ganz anders sähe es aus, wenn es zu einer neuen massiven Corona-Infektionswelle käme. In diesem Szenario wären ein deutlicher fundamentaler Rückschlag und neue Aktienmarkttiefs unausweichlich.
(FERI Gruppe)