Eine globale Rezession ist weiterhin unwahrscheinlich, doch die Lage ist instabil und die Federal Reserve (Fed) wird bei zukünftigen Entscheidungen bestimmte Indikatoren genau beobachten. Die US-Notenbank muss das richtige Gleichgewicht finden und sowohl die Inflation eindämmen als auch den Druck vom Arbeitsmarkt nehmen. Kühlt die Wirtschaft zu deutlich ab, würde die Fed wahrscheinlich das Tempo der Zinserhöhungen reduzieren.
Wir haben unsere Wachstumsprognose für die US-Wirtschaft in diesem Jahr auf rund zwei Prozent revidiert, zu Jahresbeginn hatten wir noch etwa 3,5 Prozent erwartet. Unsere Prognoseanpassung hat drei Ursachen, die bis Jahresende anhalten dürften:
Die Finanzkonditionen haben sich derart verschärft, dass sie wahrscheinlich das Wachstum belasten. Verantwortlich für die Verschärfung sind vor allem steigende Kreditzinsen, doch auch fallende Aktienkurse spielen eine Rolle. Aus unserer Sicht haben sich die Konditionen sehr viel deutlicher verschlechtert, als es die Erwartungen der Märkte an zukünftige Leitzinserhöhungen der Federal Reserve vermuten lassen. Die Zinsen könnten sogar über den neutralen Zinssatz (welcher die Wirtschaft weder stimuliert noch bremst) hinaussteigen, den wir zurzeit bei etwa 2,5 Prozent vermuten.
Die Einkommen halten nicht mit der Inflation Schritt, was die bisher soliden Fundamentaldaten der privaten Haushalte belastet. Wir rechnen mit anhaltend hohem Lohnwachstum, welches jedoch weiter hinter der Gesamtinflation (in denen die volatilen Lebensmittel- und Energiepreise enthalten sind) zurückbleiben und erst Ende 2022 wieder das Niveau der Kerninflation (ohne Lebensmittel- und Energiepreise) erreichen wird.
Wir erwarten sinkende Auslandsnachfrage. Die europäischen Volkswirtschaften leiden unter dem Ukraine-Krieg, das chinesische Wachstum ist aufgrund immer neuer Ausbrüche von Covid-19 deutlich unter den langfristigen Durchschnitt gefallen. Beides dürfte die US-Handelsbilanz belasten. Im ersten Quartal ist die US-Wirtschaft nicht zuletzt aufgrund sinkender Nettohandelserträge um 1,5 Prozent geschrumpft, da die Exporte zurückgegangen und die Importe gestiegen sind. Der unerwartete Rückgang wirkt sich natürlich auch auf die Wachstumsrate für das gesamte Jahr aus.
Erwartungen für den US-Arbeitsmarkt und -Inflation bleiben weitestgehend unverändert
Aufgrund des schwächeren Wachstums wird die Arbeitslosenquote kurzfristig nicht unter drei Prozent fallen, die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften dürfte sich schneller normalisieren. Wir rechnen mit anhaltend hoher, gleichwohl sinkender Inflation. Gründe sind die hohe Nachfrage, die angespannte Lage am Arbeitsmarkt und Lieferengpässe, die noch mindestens bis Jahresende anhalten werden. Die anhaltend hohen Energiepreise haben sich zu einem zusätzlichen Risikofaktor entwickelt, den wir genau beobachten werden.
Einen Kurswechsel der Fed bis Jahresende erwarten wir nicht und gehen weiterhin davon aus, dass der Leitzins um weitere 100 bis 150 Basispunkte (BP) steigen wird. Seit Jahresbeginn hat die Fed die Zinsen bereits um 75 BP auf 0,75 Prozent bis ein Prozent angehoben. Parallel wird die Fed ihr QE-Programm (Quantitative Easing) der letzten Jahre umkehren und ihre Bilanz verkürzen.
Europa: Steigende Inflation bedeutet noch höhere Zinsen
Hier erwarten wir inzwischen mehr Zinserhöhungen als noch zu Beginn des Jahres. In Europa hat die annualisierte Inflationsrate im Quartalsvergleich inzwischen zweistellige Werte erreicht, weshalb die Europäische Zentralbank (EZB) der Inflationsbekämpfung jetzt mehr Gewicht einräumt. Wir passen auch hier unsere Prognose an.
Die europäische Wirtschaft verliert an Schwung. Solange Russland seine Erdgaslieferungen nicht einstellt, ist eine Rezession jedoch unwahrscheinlich. Noch zu Jahresbeginn hatten wir vier Prozent Wachstum erwartet, jetzt gehen wir von rund 2,5 Prozent aus. Eine Rezession in diesem Kalenderjahr halten wir für unwahrscheinlich, sofern die russischen Gasimporte nicht drastisch sinken.
Die annualisierte Inflationsrate liegt um 15 Prozent über dem Wert vom Vorquartal. Wir haben unsere Inflationsprognose für dieses Jahr auf durchschnittlich 7,5 Prozent bis acht Prozent angehoben, zuvor waren wir von 6,5 Prozent bis sieben Prozent ausgegangen. Besonders akut wirken der drastische Anstieg der Lebensmittel- und Energiepreise, die Inflation hat jedoch inzwischen die gesamte Wirtschaft erfasst, insbesondere den Dienstleistungssektor. Die EZB hat erkannt, dass sich die Lage verändert hat. Die wichtigsten EZB-Vertreter zeigen sich mittlerweile offen für aggressivere Schritte. Wir gehen jetzt von Zinserhöhungen in der Größenordnung von 100 bis 125 BP in diesem Jahr aus, unsere bisherige Prognose lag bei lediglich 50 BP. Der Einlagenzinssatz der EZB dürfte damit zum ersten Mal seit 2011 über der Nullmarke liegen und bis Ende des Jahres auf 0,5 Prozent bis 0,75 Prozent steigen. Der Leitzins wird Mitte nächsten Jahres den neutralen Zinssatz (rund 1,5 Prozent) übersteigen und bis Ende 2023 2,5 Prozent erreichen. In den aktuellen Anleihekursen sind lediglich rund zwei Prozent eingepreist.
China: Regierung wird ihr Wachstumsziel für dieses Jahr wahrscheinlich verfehlen
Wir erwarten für das laufende Jahr eine Wachstumsrate von knapp über drei Prozent und liegen damit etwas unter den Konsensprognosen und deutlich unter dem staatlichen Ziel von rund 5,5 Prozent. Wir haben unsere Prognosen aus drei Gründen angepasst.
Chinas Null-Covid-Politik hat deutliche Spuren hinterlassen. Aufgrund der Lockdowns fielen die Wirtschaftsindikatoren im zweiten Quartal schwächer aus als erwartet, was sich auch auf das Gesamtjahr auswirken wird. Immerhin dürfte das Land die Talsohle bereits im Mai erreicht haben.
Eine Wiederholung des Aufschwungs aus dem Vorjahr ist unwahrscheinlich. Auch wenn sich die chinesische Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte erholen sollte, wird sie nicht annähernd an das robuste Tempo der zweiten Jahreshälfte 2021 anschließen können. Den absehbaren Konjunkturmaßnahmen wirken zu viele Kräfte entgegen.
Weitere Covid-Ausbrüche sind nicht auszuschließen. Noch gravierender wirkt jedoch Chinas anhaltende Null-Covid-Politik, die wirtschaftliche Belastungen bei zukünftigen Ausbrüchen unausweichlich macht.
(Vanguard)