Die Inflation „ist weitgehend temporären Faktoren geschuldet, die im Jahresverlauf 2022 nachlassen dürften“ – so hieß es in den letzten Sitzungsprotokollen der Europäischen Zentralbank (EZB). Zugleich war die Rede davon, dass „das Szenario einer höheren Inflationsrate über einen längeren Zeitraum nicht ausgeschlossen werden kann“ und man bestrebt sei, „eine vorschnelle Verringerung der geldpolitischen Impulse und der Ankäufe von Vermögenswerten“ zu vermeiden. Es sind Äußerungen, die auch schon in den Protokollen der US-Zentralbank (Fed) vor knapp einem Jahr zu finden waren. Seitdem hat sich der Tonfall der Fed deutlich geändert. Die Bekämpfung der nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuften Inflation hat mittlerweile Vorrang, und das Tempo der kommenden geldpolitischen Straffung wurde erheblich beschleunigt. Könnte die EZB mit mehreren Quartalen Abstand auf den gleichen restriktiven Kurs umschwenken wie ihr berühmtes Pendant in den USA?
Inflation in Europa: Ist die Argumentation der EZB unvollständig?
Glaubt man ihrer Präsidentin Christine Lagarde, ist das keineswegs sicher. Auf Rückfrage der französischen Presse in der Vorwoche bekräftigte sie, dass sich die Inflation zunächst stabilisieren werde, bevor sie im Jahresverlauf sinke, und dass dies im Wesentlichen zwei Faktoren geschuldet sei: dem Anstieg der Energiepreise und den Engpässen bei den Lieferketten, insbesondere dem Rückstau in den Häfen. Lagarde betonte auch, dass die in den USA beobachtete, kräftige Lohndynamik in der Eurozone noch nicht auszumachen sei und dass die Explosion der Mietpreise in Übersee sich in Europa durch eine deutlich stärkere Mietpreisregulierung in Grenzen halten werde.
Gut einstudierte Argumente, die jedoch unvollständig erscheinen. Der Hinweis auf die unterschiedliche Lohndynamik in der Eurozone und den USA ist zweifelsohne das stichhaltigste der vorgebrachten Argumente. Die deutlich höheren Mindestlöhne in Europa und die entgegengesetzten Entwicklungen an den Arbeitsmärkten während der Coronakrise – Weiterbeschäftigung in Kurzarbeit in der Eurozone; Entlassung und anschließende Wiedereinstellung in den USA – erzeugen in der Eurozone einen wesentlich schwächeren Aufwärtsdruck auf die Löhne. Die Prognose, dass sich die Engpässe in den Lieferketten allmählich auflösen werden, erscheint ebenfalls glaubhaft, denn die jüngsten Erhebungen zur Wirtschaftsaktivität deuten eindeutig in diese Richtung.
Die Unterschiede zwischen Eurozone und USA
Das Thema Wohnen ist heikler. Die ziemlich strenge Mietpreisregulierung in vielen Ländern der Eurozone dürfte tatsächlich den in den USA beobachteten Anstieg verhindern. Allerdings muss auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der Inflation in den USA und der Eurozone hingewiesen werden. In den USA berechnen sich die Wohnkosten nicht nur nach den Mieten, sondern auch nach den Eigenheimpreisen, die zudem knapp ein Viertel des US-Inflationskorbes ausmachen. Diese Komponente ist im europäischen Warenkorb schlichtweg nicht vorhanden, obwohl die Immobilienpreise im Jahresverlauf um rund 8 % zulegten. Die Wohnkosten daher ausschließlich hinsichtlich der stark regulierten Mieten zu betrachten bedeutet demnach, die Wirkung der Immobilieninflation, die in den USA den Hauptbeitrag zur Inflation leistet, erheblich kleinzurechnen. Darüber hinaus könnte das Vertrauen Christine Lagardes in einen Rückgang der Rohstoffpreise überzogen sein. In Anbetracht des Kapazitätsdefizits bei der Ölförderung bei einer noch nicht vollständig wiederhergestellten Nachfrage und der starken Abhängigkeit der Eurozone von fossilen Energieträgern nach einem Jahrzehnt Anti-Atom-Politik, könnte die Energierechnung in den kommenden Monaten weiter steigen.
Auch wenn die Inflation in Europa wohl kaum das Niveau der USA erreichen dürfte, ist daher das Risiko einer über den Erwartungen liegenden Inflation keineswegs zu vernachlässigen. Die EZB muss ihre Haltung möglicherweise noch einmal überdenken, wie es die Fed vor Monaten ebenfalls tat. Vermutlich jedoch nicht in denselben Dimensionen.
(LFDE)